Zeit als Thema und Strukturgeber in der Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts

von: Alexander Hein

Bachelor + Master Publishing, 2013

ISBN: 9783863417017 , 64 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: frei

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Preis: 19,99 EUR

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Zeit als Thema und Strukturgeber in der Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts


 

Textprobe: Kapitel Verlust des zeitlichen Zusammenhangs als strukturgebendes Prinzip: Wie im vorherigen Abschnitt angedeutet, ist die Narration in Alle Tage keine synthetische Erzählung, bei der Ereignisse gemäß ihrer natürlichen zeitlichen Reihenfolge erzählt werden, sondern eine analytische Erzählung, weil die Ereignisfolge der Erzählzeit von jener der erzählten Zeit abweicht. FRÖHLICH (2007: 70-71; 2006) konstatiert intertextuelle Anleihen von Alle Tage bei Ovids Metamorphose und Homers Odyssee in der Erzählstruktur und auch in hier nicht näher zu erwähnenden inhaltlichen Aspekten. Ähnlich diesen antiken Erzählungen ist in Alle Tage die Struktur, so FRÖHLICH (2007: 68), brüchig, mit Sprunghaftigkeit und Rissen, 'als wäre der Raum aus der Zeit geraten' (AT: 379). ERIKA HAMMER (2007: 86f) beschäftigt sich näher mit dem Bezug zwischen der Odyssee und Alle Tage und stellt dabei fest, dass Alle Tage 'nur als Persiflage dieses Musters gelesen werden [kann]' (eadem: 86), da das 'alte Schema [...] nur als Negativfolie vorhangen' (ibid.) ist. Während Odysseus Bezugspunkte wie Heimat und Familie kennt, gibt es in Alle Tage 'nur Scheinehen, Scheinfamilien und Ersatzmütter oder -väter, Umzüge und keinen Bezugspunkt' (eadem: 87), woraus es zu einer gesteigerten Labyrinthartigkeit der Erzählung kommt. Es soll nun darum gehen, das kohärenzstiftende Verfahren hinter Alle Tage zu erfassen und in einem im Rahmen dieser Arbeit zulässigen Ausmaß die erzählte Zeit soweit zu rekonstruieren, dass die vorliegenden Brüche geschlossen werden. Darüber hinaus sollen über den Weg einer zeitlich orientierten Interpretation Rückschlüsse auf die Erzählinstanz gemacht werden. GLOY (2006: 91) beschreibt die Erzählweise in der Odyssee als eine durch die Handlungslogik sich entfaltende Erzählung, in der Einzelhandlungen ohne Zusammenhang erzählt werden. Diese sogenannte präsentische Erzählweise stellt sie der neuen Geschichtsschreibung gegenüber, in der es üblich ist, dass Ereignisse 'exakte Zeitstelle (Datum), [...] Abstand zueinander (Dauer), sowie ihre Ordnung (nacheinander oder zugleich sein) erhalten' (ibid.). Dass ein derartiges Prinzip der präsentischen Erzählweise auch auf Alle Tage anwendbar ist, zeigt sich an verschiedenen Stellen. Beispielsweise wird sehr häufig auf genauere Zeitangaben, als kalendarische Relata, die eine Orientierung über den Verlauf von Abels Geschichte erlauben könnten, verzichtet, wie auch Orte und verschwiegen werden. So wird selbst Abels Namensherkunft getilgt ('Und Nema. So wie das Nichts? Nein, sagte Abel und errötete. [...] Es ist ein ...scher Name', AT: 27). Zwar wird unter der Verwendung von relativen Zeitangaben erzählt, die es erlauben, die Ereignisse grob zueinander in Beziehung zu setzen, wie es mit der Erzählung über Abels bis dato ereignislose Kindheit getan wird: 'Damals vor fünfzehn, zwanzig Jahren, lebten sie in einer kleinen Stadt in der Nähe dreier Grenzen.' (AT: 24) oder 'Nach (wie vielen?) Jahren fragte Thanos seinen Stammgast: Wo kommst du her? Darauf antwortete er endlich was.' (AT: 258) sind weitere Beispiele für das programmatische unterschlagen genauerer Ortsangaben, während einzig die gegenwartsreferentielle Angabe im Bezug zum Origo ('vor fünfzehn, zwanzig Jahren') eine grobe Einordnung in den Erzählkontext erlaubt. Mehr Informationen über Zeit und Ort lassen sich dennoch beiläufigen Ereignissen abgewinnen, welche, als spielten sie keine Rolle, den erzählten Gesprächen der Figuren zu entnehmen sind. So ist der emotionalen Reaktion Andres in einer politischen Debatte abzulesen, dass alle Beteiligten als mutmaßlich Betroffene persönliches Interesse am Jugoslawienkonflikt haben.