Ratgeber ADHS bei Erwachsenen - Informationen für Betroffene und Angehörige

von: Elisabeth Nyberg, Maria Hofecker-Fallahpour, Rolf-Dieter Stieglitz

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2013

ISBN: 9783840922244 , 93 Seiten

Format: PDF, ePUB, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 10,99 EUR

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Ratgeber ADHS bei Erwachsenen - Informationen für Betroffene und Angehörige


 

2Wie entsteht eine ADHS und warum geht sie nicht von alleine weg?

2.1Gängige Vorurteile zur Entstehung der ADHS

Die Familie ist schuld. Viele Menschen gehen davon aus, dass betroffene Erwachsene aufgrund schwieriger Familienverhältnisse von den Eltern nicht lernen konnten, wie man das eigene Leben organisiert. Dieser oberflächliche Eindruck wird durch die Tatsache verstärkt, dass in Familien nicht selten mehrere Mitglieder von einer ADHS betroffen sind. Insbesondere Müttern von ADHS-Betroffenen wird oft unterstellt, in der Erziehung zu wenig konsequent gewesen zu sein. Heute wissen wir, dass die Anfälligkeit für eine ADHS in der Mehrzahl der Fälle vererbt ist und nicht durch die Erziehung verursacht wird.

Schule und Gesellschaft sind schuld. Heute, so stellen viele Vertreter dieses Vorurteils fest, werde in der Schule und in der Berufsausbildung ein Übermaß an theoretischem Wissen verlangt, das jahrelanges Zuhören und Stillsitzen erfordere. Selbst in rein handwerklichen Lehrgängen nehme diese Unterrichtsform viel Raum ein und überfordere einen Großteil der Auszubildenden. Dazu komme, dass immer mehr an Selbststudium und schriftlichen Hausarbeiten verlangt werde, so dass Kinder und Jugendliche, denen das anwendungsorientierte Lernen mehr liege, überfordert seien. In der Freizeit führten Computerspiele und die neuen Medien zu einer virtuellen Reizüberflutung, wodurch soziale Kontakte oder Sport zu kurz kämen. Das Resultat seien Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und störendes Verhalten. Wie oben bereits beschrieben, spielt Vererbung eine entscheidende Rolle, wobei Reizüberflutung und Bewegungsmangel die Symptomatik verstärken können.

Merke:

Sowohl das Vorurteil „Die Familie ist schuld“ als auch das Vorurteil „Schule und Gesellschaft sind schuld“ sind falsch. Im nächsten Abschnitt wird der korrekte Wissensstand zur Entstehung von der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung beschrieben.

2.2Was wir heute über die Entstehung von ADHS wissen

Zusammenspiel von Anlage und Umwelt

Zahlreiche Studien konnten mittlerweile ohne Zweifel belegen, dass die Anfälligkeit für eine ADHS in einem sehr hohen Ausmaß vererbt, also bereits in den Genen angelegt ist. Damit bestehen bestimmte Voraussetzungen im Gehirn einer betroffenen Person, auf deren Boden die typischen Symptome der ADHS entstehen und aufrechterhalten werden. Bis zum heutigen Tag ist kein rein umweltbedingter Auslöser der ADHS mit Sicherheit nachgewiesen. Trotz des klaren Zusammenhangs des familiär gehäuften Auftretens von ADHS, finden sich dennoch bemerkenswerte Unterschiede in der Stärke und Art der Ausprägung der Symptome und hinsichtlich des Verlaufs der Störung. Es ist möglich, dass ein Familienmitglied genetisch die Voraussetzungen für ADHS mitbringt, auf der Ebene der Symptome jedoch nur sehr geringfügig betroffen ist. Es gibt auch Personen mit an sich schwerer ADHS-Symptomatik, die jedoch aufgrund besonderer beruflicher oder privater Umstände eine hervorragende Karriere machen. Solche Menschen können z. B. aufgrund einer bestimmten, stark ausgeprägten Fähigkeit ein großes Unternehmen aufbauen, weil sie durch einen Partner in allen organisatorischen Aufgaben entlastet werden und ihr Spezialgebiet mit immer wieder neuen Ideen ausbauen können. Diese interessante Beobachtung hat viel dazu beigetragen, dass ADHS auch oft mit dem positiv besetzen Vorurteil von „chaotischer Genialität“ oder ähnlichen Vorstellungen verbunden wird. In Abbildung 3 ist dieses Zusammenspiel von Anlage und Umwelt grafisch dargestellt.

Abbildung 3: Entstehung der ADHS

Merke:

–  Anlage: Nicht ein einzelnes Gen ist für die Anfälligkeit (oft auch als Vulnerabilität bezeichnet) für ADHS verantwortlich, sondern wir kennen heute eine Vielzahl von Genen, die mit ADHS in Verbindung gebracht werden.

–  Umwelt: Solche Einflüsse können schon in der Schwangerschaft oder bei der Geburt eine Rolle spielen, z. B. wenn die Mutter in der Schwangerschaft raucht oder ein Sauerstoffmangel bei der Geburt auftritt. Im späteren Leben können sogenannte Schädel-Hirn-Traumata (Kopfverletzungen), eine sehr einseitige Ernährung, bestimmte Medikamente oder Drogen oder eine starke psychosoziale Belastung die genetisch angelegten ADHS-Symptome verstärken.

Neuronale Botenstoffe und kognitive Netzwerke

Das heutige Wissen über die Ursachen der ADHS geht u. a. auf die Erkenntnisse zurück, die wir aus der Wirkung verschiedener Medikamente auf typische ADHS-Symptome gewonnen haben. Die neuronalen Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin spielen bei verschiedenen Denkleistungen wie der Planung von Aufgaben oder der Ausführung eigener Beschlüsse eine wichtige Rolle. Es geht dabei um Funktionen wie z. B. die selektive Aufmerksamkeit (= Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Reiz lenken und andere, nicht relevante, Reize ausblenden), das Arbeitsgedächtnis (= kurzfristiges Speichern von Informationen), die Aufrechterhaltung von Fokus und Konzentration oder die Kontrolle von Impulsen. Die genannten Botenstoffe müssen in den für diese Leistungen verantwortlichen Zentren und Netzwerken im Gehirn im richtigen Moment in der nötigen Menge zur Verfügung stehen, um z. B. im Konfliktgespräch mit dem Chef den eigenen Ärger zu kontrollieren oder für die nächste Prüfung früh genug und ausdauernd zu lernen, um die Ausbildung abschließen zu können. Menschen mit ADHS scheinen in der Regulation dieser beiden Botenstoffe Störungen zu haben, die schon im frühen Kindesalter durch typische Verhaltensmuster zum Tragen kommen und bei vielen Betroffenen in mehr oder weniger starkem Ausmaß lebenslang bestehen können.

Wichtig:

Die Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin spielen eine wichtige Rolle

–  bei der Handlungsplanung: Prioritätensetzung, selektive Aufmerksamkeit (= Lenkung der Aufmerksamkeit und dadurch Einengung der einströmenden Reize), Arbeitsgedächtnis, Aufrechterhaltung von Fokus und Konzentration usw.

–  bei der Affektkontrolle: Zurückhalten von motorischen Impulsen, kontrollierte emotionale Äußerung usw.

–  beim Ausführen von Handlungen: rechtzeitiges Beginnen, konzentriertes Arbeiten an der Aufgabe, Ausschalten von ablenkenden Reizen, rechtzeitige Beendigung der Aufgabe usw.

Veränderung der Symptome im Laufe des Lebens

Während der Entwicklung des Gehirns und dem damit verbundenen Erwerb all unserer Fähigkeiten kommt es bei einer ADHS zu einem Wandel der Symptome (vgl. Abb. 2). Bei Kleinkindern zeigt sich eine ADHS zunächst durch vermehrte motorische Aktivität, wie keinen Moment stillhalten können, überall raufklettern, dauernd reden und schreien. Im Laufe des Schulalters fallen die Störungen in der Regulation der Aufmerksamkeit zunehmend auf und erreichen im Erwachsenenalter ihren Höhepunkt, während die Hyperaktivität zurückgeht. Bei der Impulsivität spielt im Laufe der Entwicklung weniger der Wandel der Symptome als die Auswirkungen impulsiven Verhaltens eine Rolle. Während das Stören oder Schlagen anderer Kinder zwar unangenehm für die verantwortlichen Erwachsenen ist, aber meistens verhältnismäßig harmlos bleibt, ist impulsives Verhalten im Erwachsenenalter oft mit erheblichen Gefahren für sich selbst und andere verbunden. Unbehandelte Erwachsene mit ADHS neigen dazu, in allen möglichen Alltagssituationen aus Ungeduld oder Langeweile impulsiv zu handeln, wie z. B. beim Autofahren riskant zu überholen, das Gegenüber zu Beschimpfen oder Zurechtzuweisen (z. B. auch den eigenen Chef), ungeschützten Geschlechtsverkehr auszuüben oder sogar eine Straftat zu begehen, bei der sie aufgrund der fehlenden Planung größte Chancen haben auf frischer Tat ertappt zu werden. Es konnte gezeigt werden, dass knapp die Hälfte der betroffenen Kinder im Erwachsenenalter keine oder nur geringfügige ADHS-Symptome aufweist. Die andere Hälfte der Betroffenen muss sich jedoch auch im Erwachsenenalter bewusst oder ohne Kenntnis des Bestehens einer ADHS mit den Auswirkungen der Störung auseinandersetzen. Zusammengefasst ist ADHS eine Störung, die sich in allen Lebensbereichen auswirken und letztlich, wenn auch in sehr unterschiedlicher Stärke, lebenslang bestehen kann.

Wichtig:

–  Die Aufmerksamkeitsstörung bleibt meist im Erwachsenenalter bestehen, die Hyperaktivität geht eher zurück.

–  Bleibt die Impulsivität stark ausgeprägt, kommt es häufig zu Konflikten und Gefährdungen im Alltag.

–  ADHS kann sich in allen Lebensbereichen auswirken.

Tritt ADHS heute öfter auf als früher?

Diese häufig gestellte Frage ist verständlich und berechtigt. In den letzten Jahren scheint ADHS in aller Munde zu sein und kaum jemand hat heutzutage noch nie davon gehört. Es ist sicherlich schwierig, zu beurteilen, wie häufig eine bestimmte Störung oder Krankheit früher existiert hat, die erst seit wenigen Jahren Aufnahme in den Diagnosenkatalog psychischer Störungen gefunden hat. Die hohe erbliche (= genetische) Beteiligung an den Ursachen dieser Störung ist jedoch ein wichtiger Grund anzunehmen, dass ADHS auch früher schon eine Rolle gespielt hat. Wie bei...